Stil der Alltagsrede
Seine gesellschaftliche Funktion ist die sprachliche Ge¬staltung des alltäglichen Sprachverkehrs in der nicht offi¬ziellen Sphäre der gesellschaftlichen Kommunikation. Die Kommunikation wird dabei vorwiegend mündlich re¬alisiert. Einige Stilforscher fassen diesen Stil als „sprachliche Äusserungen des Alltags" [57, S. 139] auf. Als Realisierungsformen gelten Mitteilungen und Berichte, Meinungsaustausch privater Natur, objektive und subjek¬tive Feststellungen, Urteile über die Geschehnisse und Vorgänge in der Welt und in der nächsten Umgebung usw. Für den alltäglichen Sprachverkehr ist der unmittelbare Kontakt zwischen Gesprächspartnern charakteristisch, der Dialog ist hier die Hauptform des Redeverlaufs.
I. Zu den extralinguistischen Stilzügen der Alltagsrede gehören: ihre Konkretheit, die Ungezwungen¬heit und eine bestimmte Nachlässigkeit. Die Ungezwun¬genheit der Sprechweise zeigt sich in der geringen Selbst¬kontrolle und Selbstbeherrschung, in einer entspannten Gesamthaltung der Sprecher [37, S. 254—255]. Die Subjek¬tivität, die Knappheit des Ausdrucks, der dynamische Ver¬lauf der Gespräche, die emotionale Expressivität sind wei¬tere wesentliche Charakteristika des Alltagsstils.
II. Linguistische Stilzüge ergeben sich aus den Besonderheiten extralinguistischen Charakters. In der lexischen Seite der Alltagsrede sind das: zahlreiche Wörter und Wendungen aus unteren Sprachschichten mit umgangssprachlicher Färbung; Mundartwörter; Lieblings- ¬und Modewörter; Schimpfwörter und Groblexik; seltener Gebrauch von Fremdwörtern, eine beschränkte Verwen¬dung von abstrakten Substantiven; Vorhandensein spe¬zieller Wörter, die E. Riesel „Flickwörter" [52, S. 83] nennt. Darunter versteht sie: Modalwörter: gewiss, natürlich, sicher, klar, bestimmt usw.; Partikeln (verstärkende, beja¬hende, verneinende u.a.): ja, doch, wohl, aber, nun; Interjektionen (междометие) als Gefühlsäußerungen aller Art; spezielle Frageausdrücke, die keine eigentliche Fragefunktion erfül¬len: Nicht wahr? Stimmt?; viele Adverbien: hin, her, her¬über, herauf u.a.m. Charakteristisch sind hier auch „Schwammwörter", d.h. Wörter ohne irgendwelche kon¬krete Bedeutung, die als Ersetzung verschiedener Wörter dienen können. Sie sind bequem, weil man bei ihrem Gebrauch nicht auszuwählen braucht, immer bei der Hand, z.B. Ding, Sache, Zeug, machen, tun, nett, großartig u.a. [52, S. 69—70]. Im allgemeinen bevorzugt die Alltagsrede Wörter, die in ihrer Struktur einfach und in ihrer Semantik konkret und anschaulich sind; vielgliedrige Komposita, komplizierte Ableitungen (auf -ung, -keit, -heit) sind für sie nicht cha¬rakteristisch.
An der grammatischen Seite des Stils lassen sich gleich¬falls bestimmte typische Merkmale feststellen: Vermeidung langer vielgliedriger und komplizierter Sätze; Bevorzu¬gung der Parataxe im Vergleich zu der Hypotaxe (гипотаксис, подчинение ( предложений ); Vor¬herrschen kurzer Aussagesätze, die als syntaktische Haupt¬form auftreten; Vorhandensein vieler Fragesätze, Ausru-fesätze, Aufforderungssätze; allgemeine Tendenz zur Auflockerung des Satzbaus. Sie äußert sich in folgenden Erscheinungen: Satzabbrüche, verschiedenartige elliptische Sätze (mit unvollständiger syntaktischer Struktur), mannigfaltige Variationen (Veränderungen) bis zur völ-ligen Verletzung der normativen Wortfolge, Nachtrags¬konstruktionen usw. Wegen der allgemeinen Tendenz zur Vermeidung der Hypotaxe werden oft Nebensätze als gewöhnliche Hauptsätze gestaltet, d.h. ohne Konjunktio¬nen und ohne Umbau der Wortfolge. Ein relativ seltener Gebrauch von Passivsätzen ist dadurch zu erklären, dass die Aussagen im Alltagsstil immer persönlich gefärbt sind. Nicht gebräuchlich sind auch solche komplizierten Konstruktionen, wie verschiedene Arten von Partizipialgruppen, Substantivgruppen usw. Was die einzelnen spezifischen Besonderheiten dieses Stils anbetrifft, kann man noch folgendes nennen: Plu¬ralformen auf -s: Mädels, Jungs; Ersatz der Genitivform durch die Verbindung „von + Substantiv": die Worte von Vater, der Vorschlag von ihm; Verwendung des Pronomens der statt er, die statt sie usw. Eigenartig ist in diesem Stil die Verwendung der verba¬len Zeitformen, wobei die grammatischen Regeln in dieser Hinsicht nicht streng befolgt und sogar gebrochen wer¬den. Für die Vergangenheit erscheint fast ausschließlich das Präteritum, selten ist das Futur. Eine breitere Verwen¬dung als sonst findet das Präsens, es kann situationsbe¬dingt verschiedene Zeitstufen bezeichnen. Die Alltagsrede ist sehr stark durch die Mittel des bild¬lichen Ausdrucks gekennzeichnet. Sie zeigt eine starke Tendenz zu expressiver Ausdrucksweise, „zur Erhöhung der emotionalen Wirkung" [52, S. 221]. In der Alltagsrede findet man unzählige bewertende Epitheta, bildhafte Vergleiche, Hyperbeln, Metaphern u.a. Sie dienen der Anschaulichkeit, der emotionalen Einschätzung, aber auch zum Ausdruck der persönlichen Einstellung oder des subjektiven Verhaltens. Der folgende Text enthält viele Merkmale des Alltagsstils:
„Wenn die Leute hören, dass wir zu Hause elf Kinder sind, werden sie neugierig. Und sie stellen immer dieselben Fragen und staunen dann jedesmal, wenn wir erzählen, dass wir jeden Tag zwei Vierpfundbrote einkaufen, freitags sogar fünf, und dass wir für ein Mittagessen einen Eimer Kartoffeln schälen müssen. Für uns ist das normal, wir sind eben 13. Allerdings ist unsere Familie in den letzten Jahren zusammengeschrumpft (schrumpfen - сокращаться). Klaus und Ingeborg haben geheiratet und wohnen nicht mehr bei uns. Dafür bin ich schon dreimal Onkel, komisch, was? Als nächste müsste Marion die Koffer packen. Sie sagt zwar, sie habe noch keine Lust zum Heiraten, aber mit 19 ist man da nie sicher. Dann kommen Eva (17), die bestimmt froh sein wird, wenn wir ihr nicht mehr auf den
Wecker fallen (auf den Wecker fallen — надоедать кому-л. , быть настырным), und Angelik, die ist 16 und tut keinem was. Und schließlich wir sechs Schulkinder: Reinhard (14), Detlef (13), ich, Erik (10), Matthias (9) und Thomas (8).
Die drei großen Mädchen arbeiten in der Filmfabrik Wolfen und wollen dort ihren Facharbeiter machen. Da ist Vater hinterher. Er hat die drei nämlich in Reichweite, sie arbeiten alle zusammen in der Abtei¬lung S-Zellstoff... „Die Arbeit muss rollen“, sagt Vater immer, „das ist das Wichtigste.“ Klare Sache, dass er mächtig aufpasst, damit seine drei Töchter anständig mitrollen. Schon we¬gen der Familienehre... Mutti ist bestimmt genauso fleißig, aber sie ist nicht Aktivist, sondern Hausfrau. Sie hat von früh bis abends mit uns zu tun. Ist ja klar, wenn wir alle auf den Wecker fallen, wenn wir alle das Hemd wechseln, hängt der halbe Hof voll Wäsche." [30]