1.23.3. Konventionalität vs. Originalität
Die Wirkungstypen der Relation Empfänger - Stil lassen sich charakterisieren. Je mehr die textinternen Elemente dominieren, die von der Textfunktion her er¬wartbar sind, um so "konventioneller" ist die Wirkung. Textelemente da¬gegen, die durch individuelle Charakteristika des Senders oder seiner In¬tention bedingt sind, bestimmen vor allem die "originelle" Wirkung des Textes. Die Faktoren Ort, Zeit und Anlaß sind für die Wirkung jeweils um so relevanter, je größer die Distanz zwischen Textproduktions-und Textrezeptionssituation ist. Das gilt sowohl intrakulturell als auch inter¬kulturell, d.h. für den Fall der Translation. Texte, in denen die stilistisch-rhetorischen Faktoren weitgehend konventionalisiert sind (z.B. Kochrezepte, medizinische Packungsbeila¬gen, Gesetzestexte), wirken vor allem durch die darin vermittelte Infor¬mation, während die sprachlichen Konventionen die Funktion eines Prä¬signals für die Textfunktion haben. Eine eigene Wirkung haben die stili¬stischen Faktoren in solchen Texten nur dann, wenn sie nicht konven¬tionsgemäß sind und dadurch auf eine andere oder eine zusätzliche Textfunktion verweisen. Einem ähnlichen Wirkungstyp gehören die Texte an, bei denen die stilistische Gestaltung zwar individuelle Züge aufweist, aber dennoch ganz im Dienst der intendierten Textfunktion steht und daher für die Wirkung von untergeordneter Bedeutung ist (z.B. Touristenprospekt, Zeitungskommentar). Auch diese Texte wirken vor allem durch die In¬formationen, die sie vermitteln, der charakteristische Stil kann jedoch als Erkennungssignal für den Sender gewertet werden.
Anders setzt sich die Wirkung bei Texten zusammen, in denen stili¬stisch-rhetorische Elemente als mehr oder weniger gleichrangige, korre¬spondierende Textkomponenten im Dienste der vom Sender intendier¬ten Wirkung stehen (z.B. Werbetext, Kurzgeschichte, Ballade). Hier wird Wirkung nicht nur erzielt durch das, was gesagt wird, sondern auch durch die Art, wie es gesagt wird (vgl. Textbeispiel II, Kap. 5.2.).
Eine besondere Wirkung haben Texte, bei denen die Faktoren in¬kongruent (несогласованный) sind: Inkongruenz zwischen dem Inhalt und seiner stilistischen Behandlung kann z.B. ironisch wirken (vgl. Bsp. 3.2.2./4, Textbeispiel II, Kap. 5.2.). Auch Parodie und Travestie ( komisch-satirische literarische Gattung, die bekannte Stoffe der der Dichtung ins lächerliche zieht, indem sie sie in eine ihnen nicht angemessene Form überträgt) sind durch eine Diskrepanz zwi¬schen Form und Inhalt (vgl. Wilpert 1969), aber auch zwischen Textfunk¬tion und Erwartung charakterisiert (vgl. dazu Reiss/Vermeer 1984, 182). Darüber hinaus kann die Wirkung eines Textes auch mehr oder we¬niger ausschließlich auf den verwendeten stilistisch-rhetorischen Mitteln beruhen, hinter denen ein trivialer (тривиальный, пошлый, плоский)Inhalt ganz in den Hintergrund tritt. Beispiele dafür sind Kalauer, Wortspielereien usw.