1.7. Anlaß
Der Situationsfaktor "Kommunikationsanlaß" wird bei keinem der einbezogenen Ansätze ausdrücklich erwähnt, obwohl man sicher davon ausgehen kann, dass zu der "historischen Einbettung" oder den "implizierten (situativen) Voraussetzungen" auch der Anlaß gehört, aus dem ein Text geschrieben oder gesendet wird. In der "pragmatischen W-Kette" (Mentrup 1982) ist die Frage "Warum?", die man als Frage nach dem Kommunikationsanlass interpretiere, enthalten.
Nicht für alle Textsorten ist der Anlaß so leicht auszumachen wie z.B. für Anzeigen (Todes-, Vermählungs-, Verkaufsanzeigen), für aktuel¬le Berichte und Kommentare, für Protokolle, Theaterkritiken oder Rundschreiben an die Mitarbeiter einer Behörde. Anlässe bzw. Anlaßtypen stehen oft in einem konventionellen Verhältnis zu bestimmten Textsorten und Medien, d.h., dass zu bestimmten Anlässen aus Notwendigkeit oder aus gesellschaftlicher Konvention Texte produziert und dass hierbei bevorzugt bestimmte Trägermedien (z.B.: Zeitung, Formular, Briefkarte) verwendet werden. Als Anlass"typen" sind einmalige, sich häufiger oder regelmäßig wiederholende oder "Standard"anlässe denkbar.
Wir müssen jedoch unterscheiden zwischen dem Anlaß, aus dem ein Text produziert, und dem Anlaß, für den ein Text produziert wird (z.B.: Verfassung eines Gedichts für den 70. Geburtstag des Großvaters oder einer Rede für den Kirchentag oder eines Textes für ein Weihnachtslied, das immer wieder zu Weihnachten gesungen werden soll). Im ersten Fall geht es um die Seite des Textproduzenten und seine Motivation zur Textproduktion, während im zweiten Fall der Textrezipient und seine Motivation für die Textrezeption im Vordergrund stehen.
Der Anlaß für die Produktion eines Textes gibt Hinweise auf die Senderintention und die (häufig konventionelle) Textfunktion (z.B. Bekanntmachung eines Todesfalles) und ist gleichzeitig Präsignal für be¬stimmte Textsortenkonventionen im Text. Er bestimmt in diesem Falle auch gelegentlich die Verwendung nonverbaler Textelemente (Symbole, z.B. schwarzer Rand) und steuert damit ebenso die Erwartungen des Empfängers. Manche Anlässe ziehen konventionell bestimmte Texte nach sich: So wird man beispielsweise nach dem Tod einer berühmten Persönlichkeit aus Kultur oder Politik in der Zeitung ein "Nachruf" finden.
Die Kenntnis des Anlasses kann daher Rückschlüsse auf den Sender zulassen (über den Tod eines ausländischen Regierungschefs berichtet in der Zeitung meist der betreffende Auslandskorrespondent), auf die Intention des Senders (über ein freudiges Familienereignis will man informieren, dabei eventuell auch zum Gratulieren einladen), ebenso auf den Empfänger und seine Erwartung, auf das Medium und in geringerer Maße auch auf Zeit und Ort der Kommunikation (sofern man weiß, wann und wo das Betreffende als Anlaß dienende Ereignis stattgefunden hat). Von den textinternen Merkmalen sind - je nach Textsorte - vor allem die inhaltlichen Merkmale durch den Anlass geprägt, wenigstens dann, wenn der Anlaß auch im Text thematisiert wird. Aber auch Lexik und Syntax (z.B.: Trauerrede), suprasegmentale Merkmale (z.B. Intonation bei einer Trauer- im Gegensatz zu einer Büttenrede) und nonverbale Merkmale (z.B.: Symbole wie verschlungene Ringe) können anlassbedingt sein.