1.22. Relation II: Empfänger - Textwelt
Für den Empfänger trifft die Darstellung der 'Textwelt", also des im Text thematisierten Ausschnittes der außersprachlichen Realität auf eine durch Vorwissen, Horizont und "Gestimmtheit" des Empfängers be¬dingte Erwartung. Unter "Gestimmtheit" verstehe ich seine Beeinflus¬sung durch Gegebenheiten der Situation (z.B. durch die Faktoren Me¬dium, Ort, Zeit und Anlaß), die ihn für eine bestimmte Textwirkung empfänglich oder auch unempfindlich machen. Dieses Phänomen ist aus der Massenkommunikation wohlbekannt, läßt sich aber auch auf andere Kommunikationsformen übertragen.
Vor diesem Hintergrund kann bereits die Wahl der Thematik eine bestimmte Wirkung hervorrufen: Ein sonst tabuisiertes Thema kann schockieren, ein beliebtes Thema erfreuen, ein für den Empfänger frem¬des Thema kann Konzentration erfordern, aber auch auf Ablehnung oder Desinteresse stoßen etc. Je fremder die Thematik, um so eher kann es geschehen, dass der Empfänger verständnislos reagiert und den Text überhaupt nicht rezipieren will. Dieser Gesichtspunkt ist wiederum für den Translator von besonderer Bedeutung, da er, wenn er beim Z-Empfanger Verständnis für ein ihm fremdes Thema wecken will, gewisser¬maßen eine Brücke zu einer bekannten Thematik bauen muss, durch die der Empfänger Zugang zu der fremden Thematik erhält. Da das Thema oftmals in der Überschrift oder im Titel eines Textes genannt wird (vgl. Kap. 3.2.2.), ist hier häufig der Ort für eine derartige Brücke. Für den Inhalt des Textes gilt ähnliches. Ein Teil der Wirkung des Textes hängt davon ab, welche Inhalte zu dem gewählten Thema präsen¬tiert werden. Das wird zum Beispiel daran deutlich, dass die Meldung über ein politisches Ereignis eine unterschiedliche Wirkung hat, je nach¬dem, ob überwiegend positiv oder negativ bewertete Einzelheiten be¬richtet werden. Dabei muss die Selektion nicht unbedingt zum Zwecke einer Manipulation des Lesers erfolgen, sondern kann auch (wie z.B. bei einer Aussage, die der Zeuge sogar auf seinen Eid nimmt) durchaus auf der Perspektive beruhen, aus der heraus der Sender das betreffende Er¬eignis wahrgenommen hat.
Besondere Bedeutung für die Wirkung hat die Auswahl der Inhalte bei fiktionalen Texten, bei denen der Sender gewissermaßen aus einer unendlichen Vielfalt möglicher "Informationen" zu einer Person oder ei¬nem Ereignis eben eine ganz bestimmte ausgewählt hat, die er für am geeignetsten hält, die von ihm intendierte Wirkung (sprich: Interpreta¬tion) zu erzielen.
Die Präsuppositionen können für die Wirkung eines Textes eben¬falls eine große Bedeutung haben. Je mehr Wissen präsupponiert wird, um so dichter wirkt der Text. Diese Überlegung ist für den Translator besonders dann wichtig, wenn er für den Zieltextempfänger bestimmte Präsuppositionen explizit verbalisieren muss, weil sie in dessen Horizont nicht enthalten sind. Dieses Problem stellt sich jedoch vor allem bei der Übersetzung li¬terarischer Texte. In Gebrauchstexten dürfte der Wirkungsbezug von Präsuppositionen geringer sein.
Für die Translation von Texten ist diese Relation zwischen darge¬stellter Textwelt und Empfängererwartung von besonderer Bedeutung, da in jedem Fall eine kulturelle Distanz, in den allermeisten Fällen eine räumliche und in sehr vielen Fällen auch eine gewisse zeitliche Distanz zu überwinden ist. Wenn aber für den A-Rezipienten keine Distanz be¬steht, für den Z-Rezipienten die Distanz dagegen sehr groß ist, kann man davon ausgehen, dass die Wirkung jeweils verschieden sein wird. Welcher Grad an Fremdheit oder Vertrautheit im konkreten Fall für den Z-Rezipienten angesetzt werden soll, müßte im Übersetzungsauftrag festgelegt sein.
d) Empfänger - Stil
Wenn die Antizipation der Wirkung die Auswahl der sprachlichen Mittel steuert, die zur Erreichung der Wirkung führen können, ist die Wirkung in ihrer textinternen Komponente eine Kategorie der Rhetorik im antiken Sinn, in der die Wirkungsqualitäten eines Textes bestimmten Stilprinzipien ("virrutes elocutionis"), also etwa Angemessenheit (соразмерность "apturn"), Klarheit (ясность "perspicuitas") oder Schmuck (отделка "ornatus"), Stilkategorien ("figurae elocutionis") und Stilarten ("genera elocuiionis") zugeordnet werden (vgl. Plett 1985, 23). Die bei Sowinski (1973, 326ff.) aufgeführten "Stilzüge" (z.B. торжественность "Feierlichkeit", популярность "Volkstümlichkeit" oder стремительность "Hast") sind ebenfalls dazu zu rechnen (vgl. auch Kayser 1962, 100).
Die Beherrschung dieser rhetorischen Formen liegt beim Textpro¬duzenten und ist für den Empfänger nicht notwendig und auch nicht er¬wünscht (vgl. Lausberg 1971, 14), da er sich sonst möglicherweise der beabsichtigten Wirkung entziehen kann. Für den Translator dagegen ist die Kenntnis der rhetorischen Mittel und ihrer kulturspezifischen Wir¬kungsqualitäten in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Zum einen läßt sich aus der Analyse der rhetorischen Qualitäten des Textes die Inten¬tion des Senders rekonstruieren, zum anderen muss der Translator, da er sich, wie bereits angedeutet, auf seine eigene, notgedrungen subjektive und durch seine spezielle Situation bedingte intuitive "Reaktion" auf den Text nicht ohne weiteres verlassen kann, unbedingt die "am eigenen Lei¬be" verspürte (ощутить) Wirkung durch die Analyse der textintern festzustellenden rhetorischen Mittel relativieren. Die Wirkung der stilistisch relevanten textinternen Faktoren ist je¬doch nicht getrennt zu betrachten: Das Zusammenspiel der Wirkungs¬weise der verschiedenen Textelemente wird besonders in den Bereichen der Lexik, der Syntax und der suprasegmentalen Merkmale deutlich, so dass es oftmals schwerfällt, die Wirkung einzelner Stilmittel überhaupt zu isolieren. Eine Anapher (Wiederholung eines oder mehreren Wörternzu beginn aufeinander folgender Sätzer) "wirkt" ja nicht nur spannungssteigernd durch die Wiederholung eines Wortes oder Ausdrucks am Satzanfang, sondern gleichzeitig durch die dadurch bedingten Parallelismen der Satzkonstruk¬tion, die ihrerseits eine bestimmte Intonationskurve nahelegen.
Nicht immer sind jedoch die Wirkungen einzelner Textelemente in den verschiedenen Bereichen so aufeinander abgestimmt, dass sie in die gleiche Richtung zielen oder sich gar gegenseitig potenzieren. Für die Bestimmung der Textwirkung im ganzen ist daher für jeden Faktor das Spektrum möglicher Wirkungen zu analysieren. Erst durch den Ver¬gleich der Wirkungsmöglichkeiten einzelner Gestaltungsmittel des Tex¬tes kristallisiert sich heraus, welche Wirkung der Intention des Senders entsprechend im Text dominiert. Ihr sind dann auch möglicherweise ab¬weichende Wirkungen einzelner Textelemente zuzuordnen. Wenn also die Wirkung einer Metapher in einem Text sowohl das "docere", die Erkenntnisleistung, als auch das "delectare", der "Schmuck", oder das "movere", das Ansprechen der Emotionen, sein kann (vgl. Plett 1985, 87f.), ist zu fragen, welche Wirkung in demselben Text etwa ein bildhafter Vergleich, eine Alliteration (Verslehre; Gleichheit des Anlauts bei betonten Silben bedeutungsschwerer Wörter, Anlautreim) oder eine rhetorische Frage haben. Wenn bei all diesen Stilmitteln die Wirkung des "movere" überwiegt, wird diese Wirkung sich auch z.B. einer Periphrase mitteilen, der in einem anderen Text eher eine verdeutlichende, erkennt¬nisfördernde Wirkung zugeschrieben würde. Gerade diese Überlegung ist für die Translationssituation von besonderer Bedeutung, da der Translator also nicht jeweils die spezifische Wirkung einzelner Textele¬mente oder einzelner rhetorischer Figuren betrachten kann, sondern ihr Zusammenwirken im Textganzen analysieren muss.
Für die Bestimmung der Relation Stil - Empfänger ist, gerade in der interkulturellen Kommunikation, die Einbettung der verwendeten Stil¬mittel in den kulturspezifischen stilistischen Kode zu berücksichtigen. Nur im Hinblick auf das jeweils unterschiedliche Verhältnis des verwen¬deten Stilmittels zum kulturspezifisch Üblichen kann die Wirkung auf den Empfänger mit seiner kulturspezifisch geprägten Erwartung (z.B. in bezug auf Gattungs- und Textsortenkonventionen, ästhetische Prinzipien etc.) definiert werden.
Die Konventionalisierung zahlreicher gängiger Textfunktionen in Textsorten impliziert (заключать в себе) gewissermaßen auch eine Konventionalisierung der damit verbundenen Wirkung. Da sowohl Textproduzent als auch Textrezipient dies wissen, verbindet sich mit der Wahl der konventionellen textsortentypischen Mittel bei beiden auch die Erwartung, dass die Wirkung der Konvention entsprechend eintritt. Damit ist der Rezipient auch auf eine entsprechende Wirkung "eingestimmt" und schreibt dem Text eben diese Wirkung zu. Die Textfunktion ist sicherlich der pragmatische Faktor, der am ehesten geeignet ist, textinterne Normabweichungen zu "binden" und dadurch unwirksam zu machen, so dass letztendlich doch die der Textfunktion konventionell zugeordnete Wirkung obsiegt (выиграть). So ist selbst bei sprachlich defekten Bedienungsanleitungen in vielen Fällen damit zu rechnen, dass entsprechend der Senderintention und der Textfunktion "Anleitung zur Bedienung eines Gerätes" dann auch (sofern der Empfänger ein Mindestmaß an technischem Verständ¬nis mitbringt) die Textwirkung "Befähigung zur Bedienung des Gerätes" eintritt.